Die Weihnachtsflut von 1717 war die verheerendste Sturmflut der Neuzeit und markiert den Wendepunkt im Deichbau. Mit ihr begann der moderne und organisierte Küstenschutz an der Nordsee.
Eigentlich standen am Heiligabend 1717 alle Anzeichen auf Entwarnung. Bis mittags hatte zwar ein starker Südwestwind geblasen, aber glücklicherweise ließ der am Abend nach. Das Abendhochwasser war nur ein wenig erhöht. Keine Gefahr. Man feierte gemeinsam Heiligabend und ging dann, nichts Böses ahnend, am späten Abend zu Bett. In der Nacht aber drehte sich der Wind, ein Orkan kam von Nordwesten und drückte die Wellen mit tosender Gewalt gegen die Deiche.
Obwohl Ebbe war, stiegen die Pegel sehr schnell an.
Der Dauerbelastung der Wassermassen und Wellen konnten die Deiche irgendwann nicht mehr standhalten. Noch vor Einsetzen der Flut am Morgen brachen die Deiche in sich zusammen und das Meer wälzte sich wie ein Tsunami über das Land.
Im Schlaf überrascht
Für die Menschen hinterm Deich, in den kleinen Sielhäfen, gab es kaum Rettung. Viele wurden im Schlaf überrascht, vor allem alte Leute und Kinder, die auf Hilfe angewiesen waren, konnten sich nicht mehr retten. Den meisten Menschen blieb nur wenig Zeit, sich auf ihre Dächer zu retten, bevor ihr Haus unter dem Druck der tobenden See zusammenbrach. Auf ihren Dächern trieben sie dahin, saßen auf Rettungsinseln aus Heuhaufen, oder hielten sich krampfhaft an Baumstämmen über Wasser. Zu den winterlichen Temperaturen, dem rasenden Sturm und den tosenden Wellen gesellten sich starker Regen, Hagel, Donner und Blitz. Erst zum 28.12.1717 schwächte der Sturm langsam ab.
Den Überlebenden bot sich ein Bild des Grauens.
Das Überschwemmungsgebiet hatte gewaltige Ausmaße und war niemals später, bei keiner Sturmflut bis heute größer. Die Überlebenden hatten zwar ihr Leben, aber auch weiter nichts als ihr Leben gerettet. Sie hatten ihre Ehepartner, Eltern, Söhne, Töchter, Bräute, Brüder, Schwestern, Freunde und Bekannte verloren „… dahin ihr Vermögen, baares Geld, Vieh, Vorrath von Torf und allerley Lebensmitteln – sie standen trostlos da als Schiffbrüchige.“
Die verheerende Bilanz
Die Bilanz dieser verheerenden Sturmflut: In Neßmersiel zählte man 150 Tote. In Westeraccumersiel blieben nur 7 von 100 Häusern erhalten. 397 Tote gab es hier zu beklagen. Im benachbarten Dornumersiel ertranken fast alle Einwohner. In Ostfriesland gab es mehr als 2.700 Tote, an der gesamten Nordseeküste waren es mehr als 10.000 Menschen, die ihr Leben in den Fluten verloren. Nach Schätzungen gingen ebenfalls 9.700 Pferde, 44.000 Rinder, 36.400 Schafe und 9.800 Schweine in den Fluten unter.
Sturmfluten ohne Ende
Die Dramatik dieser Sturmflut in kalter Winterzeit (einige Tage nach der Sturmflut gab es starken Frost und Schneefall) wurde verstärkt durch erneute Sturmfluten am 25. Januar und in der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1718, die auf ein noch weitgehend offenliegendes Land trafen.
Noch Wochen und Monate nach der Flutkatastrophe wurden Leichen angeschwemmt. Der junge ostfriesische Pastor Johann Christian Hekelius lebte damals in Resterhafe/Schwittersum. Die kleine Kirche liegt auf einer hohen Warft und ragte während der Sturmflut wie eine Insel aus den Fluten hervor. Hekelius schildert in seiner Chronik sehr eindrücklich das ganze Ausmaß der Katastrophe:
Elendig mag es anzuschauen gewesen seyn, als bey Dornum, im Monat Februario, vor einem Steg 30 Personen, welche von dem Wasser zusammen getrieben waren, beyeinander todt gefunden, worunter Mütter waren, welche ihre Kinder umarmet, andere, die ihre Kinder fest an sich gebunden, einige die 2 von ihren Kindern in den Armen hatten …
Jahrelange Hungersnot
Die Folgen der Weihnachtsflut waren für Land und Bevölkerung verheerend. Es folgte eine Hungersnot, die sich über mehrere Jahre hinzog. Das Land wurde für viele Jahre unfruchtbar, Ernteausfälle folgten, es kam zu massenhaften Versteigerungen von Grund und Gütern. Gleichzeitig forderte der Deichbau zusätzliche Kräfte und Kosten. Trotzdem wurde die Bevölkerung zu erhöhten Abgaben für die Wiederherstellung der Deiche herangezogen. Viele Bauern verschuldeten sich. Und so verließen viele Menschen trotz Auswanderungsverbot die Marschgebiete.
Die Geschichte des Deichbaus
Bereits im Mittelalter versuchten sich die Menschen vor Überschwemmungen und verheerenden Sturmfluten zu schützen. Gleichzeitig sollte das Land urbar gemacht werden. Im Rahmen der damaligen Möglichkeiten fanden die ersten Besiedlungen meist auf Anhöhen und Erhebungen statt.
Im weiteren Verlauf auch auf künstlich errichteten Hügeln, den sogenannten Warften. Diese Warften schützten nur einzelne Gehöfte oder Dorfsiedlungen. Zum Schutz der umliegenden Weide- und Ackerflächen baute man ab dem späten 11. Jahrhundert auch um diese Flächen sogenannte Ringdeiche. Diese waren kaum höher als 1,20 m.
Ab dem 12. Jahrhundert wurden die Ringdeiche nach und nach miteinander verbunden. bis sie zum Ende des 13. Jahrhunderts eine geschlossene Deichlinie, den sogenannten Goldenen Ring, bildeten. Der Goldene Ring umgab ganz Friesland und erstreckte sich von Ostfriesland über Butjadingen, Dithmarschen und Nordfriesland.
Erfahre hier mehr über die Deichgrafen an der Nordsee und den modernen Deichbau.
Die großen Sturmfluten an der Nordsee
- 1164, 17. Februar Julianenflut
Ostfriesland und Weser-Elbe-Gebiet, Jadebusen beginnt zu entstehen, ca. 20.000 Tote - 1219, 16. Januar Erste Marcellusflut
West-, Ost- und Nordfriesland, schwere Schäden, große Überschwemmung im Elbegebiet, ca. 36.000 Tote - 1287, 14. Dezember Luciaflut
deutsche Nordseeküste, ca. 50.000 Tote - 1362, 15.-17. Januar Zweite Marcellusflut oder Grote Mandränke
Ost- und Nordfriesland große Landverluste, der Dollart beginnt zu entstehen, 30 Dollartdörfer untergegangen, Leybucht und Jadebusen erweitert, Zerstörung von Rungholt, ca. 100.000 Tote - 1532 + 1570, 1. November Allerheiligenfluten
Flandern bis Jütland, Deiche zerstört, Landverluste in Ostfriesland, ca. 10.000 Tote zwischen Ems und Weser, - 1717, 24. Dezember Weihnachtsflut
gesamte Nordseeküste, schwerste bis dahin bekannte Sturmflut, Inseldurchbrüche auf Juist, Baltrum, Langeoog und Spiekeoog, Eiderstedt und Marschen bis Geestrand überschwemmt, ca. 10.000 Tote, - 1953, 1. Februar Hollandsturmflut
Hauptsächlich Niederlande, Zeeland, über 1400 Quadratkilometer überflutet, fast 20.000 Tote - 1962, 16./17. Februar Hamburger Sturmflut
Hamburg und Niedersachsen, 61 Deichbrüche, 400 km Deich stark beschädigt oder zerstört, 1/6 des Hamburger Stadtgebietes überschwemmt, 340 Tote, 315 allein in Hamburg, 1.300 Häuser zerstört - 1990, 27. Februar Februarflut
deutsche Nordseeküste - 1994, 28. Januar Januarflut
Ostfriesland, Hamburg, 8 – 10 Meter hohe Wellen am Borkum-Riff - 2006, 1. November Allerheiligenflut
Ostfriesland, höchste Werte in der Ems - 2013, 27./28. Oktober Christian
gesamte Nordsee, höchste Windgeschwindigkeit: 191 km/Stunde auf Borkum und Helgoland, nur geringe Fluthöhe - 2013, 5./6. Dezember Xaver
gesamte Nordsee, große Landverluste auf den Inseln, hohe Windgeschwindigkeit
Hörtipp: Marlene erzählt dir mehr über die Sturmflut und den modernen Deichbau.
Bildquellen:
Fotos: Kolorierte Kupferstichkarte von Johann Baptist Homann – Beeldbank Groningen, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=64978951
Darstellung der Weihnachtsflut von 1717
Von Autor unbekannt – Copper Engraving Abbildung der fast übernatürlich-hohen Wasserflut am H(eiligen) Christ-Tag 1717 und am 25. Hornung (= Februar) 1718. includet and foldet in the book by Philomon Adelsheim: Neuer und Verbesserter Kriegs-(,) Mord- und Tod-(,) Jammer- und Noth-Calender … Verlag Johann Andrea Endters sel. Sohn und Erben, Nürnberg 1719., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9033121
Darstellung eines Deichbruchs bei der Weihnachtsflut von 1717, Ausschnitt aus der Kupferstichkarte von Homann, Nürnberg (um 1718)
Von Johann Baptist Homann – (Quelle: Staatsarchiv Oldenburg, Bestand 298 Z1115), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=431582