Der Deichgraf aus Dornum

The Great Wall

Was macht denn ein Deichgraf?

Nicht nur Touristen reiben sich bisweilen verwundert die Augen, wenn sie von diesem scheinbar veralteten Posten hören. Dabei sind seine Aufgaben aktueller denn je. Wenn Besucher in Dornum den Begriff Deichgraf hören, denken sie vielleicht an Hauke Haien, die Figur, die Theodor Storm in seiner Novelle „Der Schimmelreiter“ beschrieb. Für viele Gäste ist es allerdings eine Überraschung, dass es dieses Amt auch heute noch gibt. 

Der Schimmelreiter an der Nordsee
Jan Steffens der Deichgraf in Dornum an der Nordsee

Jan Steffens ist Deichgraf in Dornum. Er ist ehrenamtlicher Oberdeichrichter der Deichacht Esens-Harlingerland mit Sitz in Esens. Er kümmert sich – ganz in der Tradition der mittelalterlichen Deichgenossenschaften – um den Küstenschutz und damit um unsere Deiche. Im Hauptberuf war Jan Landwirt und hat mir, als ich ihn zu Hause in Dammspolder besuchte, eine Menge zu erzählen gehabt. 

Verständlich, wenn man auf ein fast 40jähriges Berufsleben zurückblickt. Mittlerweile hat sein Sohn Johannes den landwirtschaftlichen Betrieb übernommen, den er seit 1982 geleitet und aufgebaut hat. Sein Steckenpferd ist der Getreideanbau und später kam die Spezialisierung auf Schweinezucht dazu.  

 Tja, ich bin jetzt Altenteiler. Das nennt man ja so. Ich bin aber noch viel auf dem Hof und helfe Johannes.

Stand denn für dich immer fest, dass du Landwirt wirst?

Jan: Nee, ich war mir nach dem Abitur erst gar nicht so sicher, ob ich Landwirt werden wollte. Damals war die Zeit für die Landwirtschaft ziemlich schwierig. Deshalb habe ich erst vier Semester Medizin studiert. Das Physikum habe ich noch gemacht. Aber ich merkte schnell, dass mich die Landwirtschaft doch sehr interessiert. Also begann ich nebenher Landwirtschaft zu studieren und bin nach dem Studium in den Betrieb meiner Eltern eingestiegen. Anfang der 1980er Jahre erwarb mein Vater den Hof Dammspolder, den ich dann übernommen habe. Tja, und da habe ich dann mein ganzes Berufsleben verbracht. 

Und wie wurdest du dann Oberdeichrichter?

Jan: Ich bin von dem vorherigen Hofbesitzer, der im Ausschuss der Deichacht Esens war, darauf angesprochen worden. Der wollte aus Altersgründen ausscheiden, und fragte mich, ob ich das nicht weitermachen möchte. Ja, ich fand das interessant und habe mich dann dazu bereiterklärt. Dann bin ich erst in den Ausschuss gewählt worden – das war Ende der 1980er Jahre. 1998 bin ich in den Vorstand gewählt worden und hab das dann eine ganze Zeit lang gemeinsam mit dem damaligen Oberdeichrichter gemacht. 2006 bin ich dann selbst Verbandsvorsteher geworden.

Das nennt sich dann ja Oberdeichrichter (schmunzelt). Das kommt eigentlich aus der Historie des Schimmelreiters: der Deichgraf – oder Deichrichter. In der Zeit war es ja so, dass der Oberdeichrichter oder Deichgraf tatsächlich so eine Art richterliche Gewalt hatte. Damals hatte jeder Landeigentümer an der Küste ein Deichpfand zu unterhalten, also ein Stück Deich, für das er die Verantwortung trug und selbst unterhalten musste. Wenn er das vernachlässigte, waren alle anderen Landeigentümer, die das ordentlich gemacht hatten, gefährdet. Und darum musste der Deichgraf die Befugnis haben, nach entsprechender Mahnung auch einzuschreiten und dem Unterhaltungspflichtigen dieses Deichstück und das dazugehörige Land zu entziehen. 

Deshalb auch der Spruch „Well nich will dieken, de mut wieken!“

Jan: Ja genau, der stammt aus dieser Zeit. Im Laufe der Zeit wurde das alles neu organisiert. Also die Deichpfänder wurden aufgehoben und die Aufgaben des Küstenschutzes an die sogenannten Deichachten übertragen. Seit dem 18. Jahrhundert machen die Deichachten das in eigener Verantwortung. Und der Titel Deichgraf oder Oberdeichrichter ist so geblieben. Jedenfalls haben wir das hier so beibehalten. Klingt ja auch schöner als Verbandsvorsteher. Nur die richterlichen Möglichkeiten wie sie damals die Deichgrafen hatten, die haben wir natürlich nicht mehr.  

Was sind denn heutzutage die Aufgaben der Deichacht?

Jan: Letztendlich die Unterhaltung der Deiche. Und der Ausbau – also, wenn ein Deich erhöht werden muss. Da müssen wir allerdings mit staatlichen Behörden wie dem NLWKN (Niedersächsischer Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz) zusammenarbeiten. Die begutachten, welche Deiche erhöht werden müssen, machen Planungsaufgaben, wenn problematische Ortslagen betroffen sind oder eine Straße über den Deich gebaut werden musss, holen Genehmigungen ein und bewilligen die Mittel. Und die Aufsichtsbehörde für uns als Deichacht ist der Landkreis mit der Unteren Wasser- und Deichbehörde.  

Wie finanziert sich die Deichacht?

Jan: Jeder Grundeigentümer im Verbandsgebiet ist zwangsweise Mitglied und demnach beitragspflichtig. Das Verbandsgebiet wird durch eine 5 Meter Höhenlinie abgegrenzt. Wenn du also in einem Ort wohnst, der über 5 Meter NN liegt, bist du nicht mehr Mitglied in der Deichacht.  

Wie groß ist euer Verbandsgebiet?

Jan: Es ist ca. 40.000 ha groß mit rund 16.000 Eigentümern. Wir haben 29 km Seedeich, von Dreihausen, westlich von Dornumergrode bis Harlesiel.  Hinzu kommen noch 25.5 km Schlafdeich.

Was sind Schlafdeiche?

Jan: Das ist die Deichlinie in der 2. Reihe auf der Landseite. Es sind die alten Deiche. Die bezeichnet man deshalb als Schlafdeiche, weil sie schon noch eine Funktion haben, aber es relativ unwahrscheinlich ist, dass sie gebraucht werden.  

Du meinst, wenn der Hauptdeich doch mal brechen sollte? Wie hoch sind denn die Hauptdeiche?

Jan: Viele Deiche sind 7,50 – 8 m über NN. Die neuen Deiche, die wir jetzt bauen, sind mit gut neun Meter einen Meter höher. 

Warum werden die Deiche erhöht? Berücksichtigt ihr damit bereits die Auswirkungen des Klimawandels?

Jan: Einen kontinuierlichen Meeresspiegelanstieg haben wir schon seit sehr, sehr langer Zeit. Der wurde früher mit 20 cm pro 100 Jahre angegeben. Bislang lagen wir bei 30 – 32,5 cm Anstieg in 100 Jahre.

Für die Zukunft bis etwa 2100 erwartet man einen Anstieg von 50 cm – 1m oder sogar noch darüber. Die Ursache ist natürlich der vom Menschen verursachte Klimawandel.

Der hat zur Folge, dass sich das Meerwasser erwärmt und die Gletscher abschmelzen. Darauf müssen wir uns jetzt schon einstellen. Das machen wir bereits jetzt. Die Baukapazitäten sind auch gar nicht vorhanden, um diese Deicherhöhungen auf einen Schlag zu machen. Wir planen bei den jetzigen Erhöhungen bereits eine Sicherheitsreserve von 1 Meter ein.  Der Deich wird also noch einen Meter höher, als eigentlich notwendig.   

Jan Steffens - Deichgraf in Dornum an der Nordsee

Aber wenn die Deiche immer höher werden, müssen sie dann nicht zwangsläufig auch immer breiter werden? Bekommt ihr da nicht Platzprobleme?

Jan: So ist es. Das ist oft schwierig. Auf der Nordseite, der Seeseite des Deiches haben wir den Nationalpark. Und die wollen natürlich nichts von ihrem Land abgeben. Binnendeichs, auf der Landseite ist der Deichverteidigungsweg für den Katastrophenfall und landwirtschaftliche Flächen. Und die Landwirte wollen auch nichts abgeben. Dabei ist es aus fachlicher Sicht am besten, wenn die Deichkrone bleibt, wo sie ist, sie also in der bestehenden Achse bleibt. Denn der Untergrund ist ja auch nicht unbegrenzt tragfähig. Problematisch gestaltet sich die Deicherhöhung besonders in den Küstenbadeorten.    

Kannst du ein Beispiel nennen?

Jan: Vor Jahren sind wir in Harlesiel angefangen, den Deich zu erhöhen. Irgendwann musste der Bau gestoppt werden, weil dort mehrere Rampen, also Straßen, über den Deich führen. Die Erneuerung dieser Straßen wollte der Küstenschutz nicht komplett zahlen. Das sind nämlich Rampen, die zum Teil gebaut wurden, um touristische Einrichtungen zu erreichen. Und da ist dann die Stadt zuständig, die natürlich einen gewissen Vorlauf braucht, um die Kosten haushaltsmäßig einzuplanen.   

Wie ist denn so ein Deich überhaupt aufgebaut?

Jan: Ursprünglich bestanden Deiche weitgehend allein aus Klei.  

Was ist Klei?

Jan: Als Klei wird ein Marschenboden bezeichnet, der aus einem Gemisch von Ton, Schluff und Sand mit organischen Anteilen besteht. Der hat eine sehr viel höhere Widerstandskraft gegenüber Wellenschlag. Ursprünglich wurden erste Deiche als Vollkleideiche in geringen Höhen von ein bis zwei Meter Höhe ausgeführt. Heute werden die bis zu neun Meter hohen Deiche als Sandkerndeiche mit einer Kleiabdeckung hergestellt.  Dies ist schon deshalb erforderlich, weil die Deiche heute einen erheblich größeren Deichquerschnitt aufweisen. Für deren Ausbau als reiner Kleideich ist in vielen Fällen nicht mehr genügend Klei zu beschaffen.

Der Klei ist eine endliche Ressource. Zwar haben wir zurzeit noch genügend. Aber häufig sind die Transportwege zu weit und die Kosten dementsprechend zu hoch. Vor allem in Verbindung mit der Grasnarbe hält Klei sehr gut stand. Die notwendige Stärke der Kleiabdeckung beträgt für die seeseitige Böschung 1,5 Meter und für die landseitige Böschung einen Meter. 

Gäbe es die Deiche nicht, wie weit würde das Wasser der Nordsee ins Binnenland fließen?

Jan: Bei normalem Hochwasser würden die Leegden, also die tiefen gelegenen Flächen volllaufen. Aber es würde nicht alles unter Wasser stehen.

Bei Sturmfluten würde die Nordsee bestimmt 15 Kilometer weit ins Land fließen.

Der Ort Dornum würde nicht betroffen sein, da der Ort auf einer Geestinsel liegt. Genauso wie Esens.  Aber drumherum wäre alles unter Wasser.  

Puh, das brauchen wir nicht. – Für die Deichsicherheit sind immer auch noch die Schafe unerlässlich, oder? 

Jan: Schafe spielen eine große Rolle. Sie verdichten mit ihren harten Trippelschritten den Boden, ohne ihn zu beschädigen. Außerdem bestockt das Gras besser, da es von den Schafen ganz kurz abgeweidet wird. Man bekommt eine dichte Grasnarbe oderirdisch und eine gute Wurzelmasse unterirdisch. Das hält den Boden fest. Und Schafe sind natürlich nicht so schwer wie Kühe, die bei Nässe die Grasnarbe kaputttreten würden.

Also die Schafbeweidung ist schon wichtig. Das wollen wir auch unbedingt beibehalten. Wobei wir in den touristisch intensiv genutzten Gebieten Dornumersiel und Bensersiel keine Schafe mehr einsetzen, sondern den Deich maschinell mähen müssen. Bei einer Schafhaltung müssten wir den Deich einzäunen.  Das wollen die Touristen nicht, weil sie dann nicht auf den Deich können, einige schimpfen über Schafköttel oder treiben die Schafe, so dass die sich teils erheblich verletzen. 

Hörtipp: Marlene erzählt dir über das Leben der Deichschafe.

Das ist ja leider auch regelmäßig dann in der Presse zu lesen. 

Jan: Ja, deshalb haben wir gemeinsam mit der Tourismus GmbH in Dornum die Aktion „Schafffreundschaft“ ins Leben gerufen. Das hat auf viel positive Resonanz gestoßen. 

Ohne erhobenen Zeigefinger wollen wir Gäste und Einheimische dafür sensibilisieren, wie wichtig die Schafe für den Küstenschutz sind.

Durch die Presse gehen jedes Jahr die Deichschauen. Was hat es damit auf sich? 

Jan: Genau, die sind zweimal im Jahr, im Frühjahr und Herbst. Die organisieren wir. Während der Frühjahrs-Deichschau werden der Deich und die dazugehörigen Anlagen und Bauwerke wie Deichscharte (Öffnungen im Deich für Verkehrswege) und Gräben auf Schäden begutachtet, die im vergangenen Winter durch Sturmfluten eventuell entstanden sind. Es werden aber auch Anliegen der Gemeinden besprochen, wenn diese in der Nähe des Deiches etwa bauen möchten, zum Beispiel eine touristische Einrichtung oder eine Campingplatzerweiterung oder ähnliches. Da gibt es viele Ansprüche. Und alle wollen sie gerne an den Deich. Und wir müssen dann mit dem Landkreis besprechen, ob das machbar ist, unter welchen Bedingungen es geht usw. Ja, das besprechen wir teilweise auch auf den Deichschauen. Sofern es gerade so passt. 

Wer nimmt denn an der Deichschau teil? 

Jan: Auf der Frühjahrs-Deichschau sind wir eine kleine Gruppe. Da bin ich als Oberdeichrichter, mein Stellvertreter, der Geschäftsführer, Mitarbeiter des NLWKN und der Unteren Wasser- und Deichbehörden. Das sind so ca. sieben bis acht Personen. Dann fahren wir die Deichstrecke mit dem Bulli ab. Das sind 29 km Hauptdeichlinie. An den kritischen Punkten steigen wir aus und begutachten das. Dann wird direkt besprochen, was gemacht werden muss, wenn z. B. Schäden am Deckwerk oder Straßen repariert werden müssen oder Gräben zu unterhalten sind.

Auf der Herbst-Deichschau wird in der Regel geprüft, ob die Aufgaben erledigt wurden. Ist alles in Ordnung, sind die Verbandsanlagen sicher für den Winter. Zur Herbst-Deichschau kommt eine große Deichschau-Kommission, ca. 25 – 30 Personen. Da sind dann die Landräte und der Vorstand der Deichachten dabei. Das ist dann immer ein großes Event, an dem die Presse auch teilnimmt. Nach der Begutachtung sagt dann der Landrat ganz offiziell: „Die Deiche sind in Ordnung“.

Ja, und wir lesen das dann am nächsten Tag in der Zeitung und wissen, dass wir uns vor den kommenden Winter-Sturmfluten sicher und geschützt fühlen können.   

Übrigens: Im Siel- und Schöpfwerk in Dornumersiel kannst du live und in Farbe ganz viel über Deichbau und Küstenschutz an der Nordsee erfahren. Bei Führungen bekommst du echte Hinter-die-Kulissen-Einblicke. Hier geht’s zu den Führungen mit dem Motto: „Well nich will dieken, mutt wieken.

 

Jan Scheffers Deichgraf in Dornum an der Nordsee

Lieber Jan, danke für das Interview!

Hörtipp: Marlene erzählt dir mehr über den Deichbau und die Weihnachtsflut.

Marlene schreibt

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