Zuhause bei häuptlingen
In dieser Folge von „Teetied und Rosinenbrot“ nehmen wir euch mit auf eine spannende Zeitreise zum Steinhaus in Nesse. Wusstest du, dass dieses unscheinbare Backsteingebäude einst eine bedeutende Häuptlingsburg war?
Die dicken Mauern mit ihren Schießscharten und eine 400 Jahre lang verborgene Holzdecke verraten: Hier residierten im 14. Jahrhundert mächtige Häuptlinge, die von diesem Ort aus den einstigen Hafen von Nesse im Blick behielten.
Nesse am Meer?
Kaum vorstellbar, aber im Mittelalter reichte die Nordsee bis ins Dorf hinein. Wo heute ein kleiner Fischteich liegt, war damals reges Treiben – Händler, Schiffe und das Tor zur Welt. Das Steinhaus war ein wichtiger Schutzposten und Zeugnis dieser vergangenen Hafenzeit.
Heute könnt ihr das Steinhaus von außen bestaunen – oder mit etwas Glück an einer Hausführung teilnehmen. Die Eigentümer erzählen mit viel Leidenschaft von ihrer „Drei-Zimmer-Burg“ und laden hin und wieder sogar zu Konzerten in der alten Burgküche ein.
Also: Rauf aufs Rad, ab nach Nesse – und auf zur Spurensuche nach Ostfrieslands verstecktem Burgen-Erbe!
Die ganze Episode zum Nachlesen:
Moin und herzlich willkommen bei einer neuen Folge von Teetied und Rosinenbrot, dem Podcast aus Dornum.
Heute gibt es eine kleine architektonische Zeitreise – und zwar zu den ostfriesischen Burgen. Im Mittelalter soll es zwischen Weser und Ems mindestens 500 Burgen gegeben haben, von denen jedoch die meisten nicht mehr existieren. Allein in unserer Gemeinde Dornum gab es einst sechs oder sieben Burgen. Drei davon haben die Jahrhunderte überstanden, und diese könnt ihr euch auch heute noch anschauen.
Das Einzigartige an unserer Dornumer Burgenlandschaft ist, dass ihr anhand unserer alten Bauwerke sehr gut nachvollziehen könnt, wie sich der Burgenbau in Ostfriesland im Laufe der Jahrhunderte weiterentwickelt hat. Vom einfachen Wohn- und Wehrturm bis hin zum prachtvollen barocken Wasserschloss – all das könnt ihr bei uns entdecken.
Burgen in Ostfriesland
Wann genau der Burgenbau in Ostfriesland begann, ist unbekannt. Vermutlich aber nicht vor Mitte des 13. Jahrhunderts. Erst zu dieser Zeit lernten die Ostfriesen von den hier ansässigen Mönchsorden, wie man aus der lehmhaltigen Erde wetterbeständige Ziegel brennen konnte. Ostfriesland war nämlich sehr arm an natürlichen Steinvorkommen, weshalb die Menschen ihre Häuser bis dahin aus Holz und Lehm bauten. Nur Kirchen durften damals aus Stein errichtet werden.
Darüber hinaus lehnten unsere Vorfahren den Bau von Steinhäusern zu reinen Wohnzwecken lange Zeit strikt ab – es war sogar gesetzlich verboten und mit Strafen belegt. Man muss verstehen: In Ostfriesland gab es damals keine adeligen Strukturen. Und mal ehrlich, nur wohlhabende Menschen hätten sich überhaupt den Bau eines Wohnhauses aus Stein leisten können.
Die freien Friesen
Die Menschen, die hier lebten – und das waren vorwiegend Bauern – nannten sich damals ganz stolz „freie Friesen“. Sie waren nämlich niemandem untertan, lebten und arbeiteten auf ihrem eigenen Land und waren in genossenschaftsähnlichen Landesgemeinden organisiert.
Leider verfiel diese egalitäre Ordnung gegen Ende des 14. Jahrhunderts allmählich. Es gab zahlreiche Krisen: Hungersnöte, mangelnde Absatzmärkte für ihre Waren, einige verheerende Sturmfluten – und nicht zu vergessen der Ausbruch der Pest. Aber wie es oft in Krisenzeiten ist, konnten einige wenige Familien von diesen Wirren profitieren. Sie kamen zu Macht und Einfluss und errichteten schließlich ein Herrschaftssystem, in dem sie als sogenannte Hovedlinge – übersetzt „Häuptlinge“ – die Kontrolle über teils weitläufige Gebiete an sich rissen.
In diese Zeit fällt auch der Burgenbau. Die Häuptlinge setzten sich irgendwann einfach über das Verbot hinweg, Steinhäuser zu bauen.
Die ersten Burgen waren eingeschossige, wehrhafte Steinhäuser, die damals Steenhuis – also „Steinhaus“ – genannt wurden.
Diese frühen Steinhäuser waren eher klein, hatten einen rechteckigen Grundriss von etwa 8 mal 12 oder 12 mal 15 Metern und bestanden in der Regel aus nur einem Raum.
Mit der Zeit entwickelten sich die Steinhäuser zu repräsentativen Wohn- und Wehrtürmen. Sie wurden höher, bekamen zwei bis drei Geschosse mit hohen, steilen Giebeln und einem einfachen Satteldach. An den beiden Giebeln befand sich jeweils ein Schornstein, sodass man auch die Obergeschosse mit Kaminen ausstatten konnte.
Von diesen ursprünglichen Steinhäusern sind heute nur noch drei in Ostfriesland erhalten geblieben.
Das Steinhaus in Nesse
Eines dieser Steinhäuser steht bei uns in Dornum, im kleinen, beschaulichen Dorf Nesse, ganz in der Nähe unseres Küstenbadeortes Neßmersiel. Das stattliche, zweigeschossige Nesmer Steinhaus zählt zu den frühesten Steinhäusern Ostfrieslands und ist zugleich eines der am besten erhaltenen mittelalterlichen Wohnhäuser der nordwestdeutschen Küstenregion.
Wenn ihr mal mit dem Rad einen Ausflug nach Nesse macht, fahrt ihr höchstwahrscheinlich auf dem Radweg entlang der Hauptstraße durch das Dorf. Und dann wird euch sofort, direkt neben der Kirche, ein markanter, turmförmiger Backsteinbau ins Auge fallen – ein Gebäude, das irgendwie so gar nicht zu den anderen Häusern in der Nachbarschaft passen will.
Das Erstaunliche ist, dass man bis vor wenigen Jahren gar nicht wusste, welch kulturhistorische Kostbarkeit hier mitten im Ort steht.
Das Wissen über diese ehemalige Häuptlingsburg war nämlich im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen. Vielleicht hat sich die eine oder der andere mal gefragt, warum dieses Gebäude so anders aussieht als die umliegenden Häuser, aber wirklich hinterfragt wurde es eigentlich nie. Dieses alte Gemäuer war einfach immer da – es gehörte eben zu Nesse.
Vermutlich haben hier über 200 Jahre lang Häuptlinge residiert. Welche Familien das genau waren, ist nicht eindeutig belegt. Fest steht jedoch, dass das Steinhaus im 16. Jahrhundert zum Pfarrhaus umfunktioniert wurde. Ganze 450 Jahre lang diente es als Pastorat, bevor es in den 1960er-Jahren zum Gemeindehaus wurde. Danach stand es weitere 25 Jahre leer.
Weil man das Haus irgendwann gerne loswerden wollte, wurde es schließlich im Jahr 2021 an ein Ehepaar verkauft.
Die neuen Eigentümer restaurierten das Haus, um es künftig als Wohnhaus zu nutzen. Während der Restaurierungsphase dämmerte es ihnen jedoch, dass dieses Gebäude kein gewöhnliches Haus sein konnte. Sie entdeckten zahlreiche alte Schießscharten und kleine Fenster, die das Bauwerk eindeutig ins 14. Jahrhundert verorteten.
Die Wiederentdeckung der Burg
Mittlerweile hatten sie bereits Archäologen hinzugezogen. Und als man Schicht für Schicht die Decke im Obergeschoss freilegte, kam das Highlight des Hauses zum Vorschein: eine mittelalterliche Holzdecke mit rot angestrichenen Eichenbalken – unbeschadet und im Originalzustand. 400 Jahre lang war diese Decke zugemauert gewesen. Eine dendrochronologische Untersuchung der Deckenbalken und der Dachkonstruktion ergab, dass das Fälldatum der ältesten verbauten Hölzer um das Jahr 1342 liegt.
Zusätzlich gibt es historische Quellen, die ebenfalls belegen, dass dieses merkwürdige Steinhaus in Nesse tatsächlich eine der ältesten Häuptlingsburgen Ostfrieslands ist. Heute steht das Gebäude selbstverständlich unter Denkmalschutz.
Das Steinhaus wirkt in seiner heutigen Form recht klein: Es bietet rund 120 Quadratmeter Wohnfläche, verteilt auf zwei Etagen. Ursprünglich war es jedoch deutlich höher. Im 16. Jahrhundert wurde es auf Traufhöhe gekürzt – vermutlich, weil es nicht höher als die benachbarte Kirche sein durfte. Damals galt die Regel, dass kein Gebäude ein Gotteshaus überragen durfte.
Das Nesser Steinhaus lässt sich wunderbar von außen besichtigen. Oder ihr besucht eines der Konzerte, die die Eigentümer gelegentlich in der Küche ihrer „Burg“ veranstalten.
Die Drei-Zimmer-Burg
Mit etwas Glück könnt ihr sogar an einer kleinen Hausführung teilnehmen, denn die neuen Hausherren erzählen wirklich sehr gerne von ihrer „Drei-Zimmer-Burg“, wie sie ihr Haus manchmal scherzhaft nennen.
Wenn man sich den Standort der Burg anschaut, stellt sich unweigerlich die Frage: Warum wurde sie gerade hier in Nesse gebaut – so weit von der Nordsee entfernt?
Die Antwort ist überraschend einfach: Vor Hunderten von Jahren lag Nesse direkt am Meer.
Als Nesse im 9. Jahrhundert als Handelsniederlassung entstand, reichte die Nordsee bis ins Dorf hinein. Nesse lag damals in einer Bucht und hatte einen Hafen, an dem Handelsgüter umgeschlagen wurden. Hier war also einst richtig was los! Von der Burg aus konnte man den Hafen nicht nur gut überwachen, sondern bei Bedarf auch verteidigen.
Ein Stück weiter nördlich, hinter dem Steinhaus am Nordbuscher Weg, gibt es heute noch einen kleinen Fischteich. Man vermutet, dass sich dort der historische Hafen befand. Wenn man vor dem unscheinbaren Tümpel steht, braucht man allerdings schon eine ganze Menge Fantasie, um sich vorzustellen, wie sehr Nesse damals vom maritimen Handel geprägt war. Es ist wirklich faszinierend, wie sehr sich die Landschaft über die Jahrhunderte verändert hat.
Genauso spannend wird es in der nächsten Podcastfolge, wenn ich euch von unseren beiden Burgen im ehemaligen Häuptlingsstädtchen Dornum erzähle.
Eure Marlene aus Dornum.