Achtung Kugel!
Im Süden Deutschlands kennt es kaum jemand. In Ostfriesland ist es aber Breitensport und fester Bestandteil des sportlichen und kulturellen Lebens.
Im Herbst und Winter ist Boßel-Hochsaison. Jetzt finden die wichtigsten Teamkämpfe statt. Männer, Frauen und Kinder kämpfen in Kreis-, Bezirks- und Landesligen um Aufstieg und Abstieg. Vor allem an den Wochenenden kann man den boßelnden Einheimischen kaum aus dem Weg gehen. Eine echte Tradition in Ostfriesland!
Was ist Boßeln?
Und viele Touristen fragen sich verwundert, was es bedeutet, wenn diese wild gestikulierend „Hier up an!“ („Hierher“) schreien, plötzliche einer losrennt, hüpft und eine Kugel wirft. Die springt und rollt die Straße entlang, bis sie zum Stehen kommt oder im Straßengraben versinkt.
Hanko Darmstädter ist in Dornumergrode zu Hause, in der Landwirtschaft groß geworden und jetzt als Heizungsbaumeister tätig. Der frischgebackene Vater ist mit Leib und Seele Boßler und Mannschaftsführer der Männer I im Klootschießer- und Boßelverein „Vull Kraft“ Dornumergrode. Er erklärt mir, worum es beim Boßelsport geht.
Hier up an!
Hanko: Wie funktioniert Boßeln?
Hanko: Das ist relativ einfach. Ziel ist, eine festgelegte Strecke mit möglichst wenigen Würfen zu bewältigen. Boßeln wird im Team gespielt. Dabei treten zwei Mannschaften gegeneinander an. Die Mannschaften bestehen überwiegend aus zwei Gruppen mit je vier Werfern. So ist es auch bei uns in Dornumergrode. Eine Gruppe wirft mit Holzkugeln, die andere mit Gummikugeln.
Und wie ist der Spielverlauf beim Boßeln?
Hanko: Stell dir vor, wir haben also zwei Mannschaften A und B mit je zwei Gruppen mit je vier Werfern. Der Anwurf erfolgt immer an einem gewählten Startpunkt durch den ersten Spieler der Mannschaft A. Danach wirft der erste Spieler der Mannschaft B. Jeder Boßler versucht mit der Kugel die größtmögliche Weite zu erzielen. Der Wurf ist beendet, wenn die Boßelkugel am Straßenrand zum Stehen kommt oder ungünstiger Weise im Graben oder Gebüsch liegen bleibt. Der Anschlusswurf erfolgt dann von diesem Punkt.
Liegt die Kugel abseits der Straße, wird der Abwurfpunkt natürlich auf die Straße verlegt. Es wirft immer die Mannschaft zuerst, deren Kugel zurückliegt. Gelingt es dabei dem Werfer des zurückliegenden Teams nicht, den Rückstand wettzumachen, erhält der Gegner einen Punkt, der Schoet oder Wurf genannt wird. Ziel des Spiels ist es, möglichst viele Schoets zu erzielen.
Ist die Streckenlänge vorgeschrieben?
Hanko: Die Streckenlänge beim Boßeln ist vorher festgelegt worden. Allgemein soll die Strecke so lang sein, dass jeder Werfer mindestens 10 – 12 Würfe absolvieren kann. Dadurch beträgt die Gesamtstreckenlänge, die wir zurücklegen müssen, mehrere Kilometer. Wenn wir in Dornumergrode auf der Störtebekerstaße spielen, sind das ungefähr 4 km hin und zurück. Nach der Hälfte der Strecke ist eine Wende vorgeschrieben.
Wie groß sind die Boßelkugeln?
Hanko: Die Boßelkugeln haben einen Durchmesser von 12 cm und wiegen ungefähr 1 kg.
Und warum werft ihr mit unterschiedlichen Kugeln, also Holz oder Gummi?
Hanko: Das sind die Vorlieben der Werfer. Der eine mag lieber mit einer Gummikugel werfen, weil die etwas leichter und kompakter ist. Die Männer mit großen Händen werfen gerne mit der Holzkugel. Die reagiert aber auch schneller. Wenn da mal ein Schlagloch ist, springt die Gummikugel drüber weg. Die Holzkugel springt dann ins Aus.
Wie weit werft ihr die Kugeln?
Hanko: So ca. 200 – 300 Meter.
Gibt es eine bestimmte Wurftechnik beim Boßeln?
Hanko: Ja! Die Boßel-Technik ist schon speziell. Zunächst nimmt der Werfer Anlauf, je nach Wurfziel sind es nur wenige Meter bis zu 25 Meter, dabei läuft er erst langsam, dann immer schneller. Den Wurfarm hält er dabei senkrecht und eng am Körper, der ebenfalls sehr gerade bleiben sollte. Kurz vor dem Abwurf wird der Wurfarm zuerst nach vorn, dann nach hinten am Körper entlang weit ausgeholt, wie bei einem Pendel. Zuletzt macht der Spieler einen Doppelschritt, dann wirft er die Kugel mit einer schnellen Bewegung und möglichst viel Kraft in Richtung des angepeilten Zielpunkts.
Also braucht es Koordination, Technik und Kraft fürs Boßeln. Und wird man durch das Boßeln nicht auch zum Straßenbelagsexperten? Der spielt doch sicherlich auch eine Rolle.
Hanko: (lacht). Ja, das ist tatsächlich so. Wölbungen in der Oberfläche, Kurven, Krümmungen, Gefälle, Seitenrillen – das muss der Werfer alles einkalkulieren und entsprechend werfen. Und dann gibt es ja noch den sogenannten Heimvorteil. Wir wissen als einheimische Boßler genau, wo wir auf unserer Heimstrecke Vorteile haben.
Kurven sind doch bestimmt auch eine besondere Herausforderung, oder?
Hanko: Ja, da braucht man eine extra Technik. Und eine gute Tagesform. Jeder unserer Boßler kann gut werfen. Aber es ist eben niemand der Lage, jeden Tag eine Top-Leistung abzurufen.
Wenn man auswärts spielt und vor einer Kurve sitzt, dann kommt es darauf an, dass man einen guten Bahnanweiser hat. Der ist eine immens wichtige Person.
Das sind die Experten mit jahrelanger Erfahrung. Bei uns ist das der Älteste in der Mannschaft. Der zeigt dem Werfer den günstigsten Punkt für den Aufprall der Kugel.
Aaah, das sind die Männer, die immer breitbeinig mitten auf der Straße stehen?
Hanko: Ja, der Feind des Autofahrers (lacht). Der steht da, wo die Kugel laufen soll, damit sie die optimale Weite erzielt. Der kann die Straße von der Gegenrichtung einsehen und hat einen anderen Blick darauf. Das ist oftmals besser.
Der Feind des Boßlers ist wohl auch der Straßengraben, wenn die Kugel dort hineinrollt. Wie bekommt ihr die denn wieder heraus?
Hanko: Das machen wir mit dem Hacker oder Kraber, wie er auch genannt wird. Das ist ein Metallkorb an einem langen Stiel. Sieht aus wie ein Apfelpflücker. Die Kugel in den Gräben wiederzufinden ist wirklich eine Herausforderung. Da kann es durchaus passieren, dass wir beim Wettkampf auch mal eine Kugel verlieren. Deshalb muss immer Ersatz da sein. Wenn wir keine Ersatzkugel haben, können wir den Kampf abbrechen und haben verloren.
Oh, das ist ja ärgerlich ….
Hanko: Ja, auch weil es dann nachmittags nach dem Wettkampf heißt: Alle Mann Kugel suchen!
Findet ihr die wieder?
Hanko: In der Regel schon. Ganz kurios – wir haben erst vor 14 Tagen eine Kugel gesucht: Die haben wir nicht gefunden, dafür aber drei andere (Lacht)
Spielt ihr eigentlich nur sonntags?
Hanko: Die Frauen und Jugendlichen werfen samstags nachmittgas. Die Männer werfen in der Regel sonntags, entweder vormittags oder nachmittags.
Und warum boßelt ihr nur im Winter?
Hanko: Das ist Tradition. Das Boßeln entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Klootschießen. Man nimmt ja an, dass das Klootschießen der älteste friesische Sport ist und sich daraus wesentlich später der Boßelsport entwickelt hat.
Das Boßeln entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Klootschießen.
Was ist Klootschießen?
Der Ursprung des Boßelns liegt im Klootschießen, eine norddeutsche Sportart, die weitaus älter als das Boßeln ist. Ursprünglich als Verteidigungswaffe gedacht, wurden getrocknete Kleiklumpen zum Kräftemessen über das Land geworfen. Der Kleiklumpen wurde später durch eine mit Blei gefüllte Holzkugel abgelöst.
Da das Klootschießen eine ausgefeilte Wurftechnik voraussetzt, war es als Breitensport nur bedingt geeignet. Wann der Übergang vom Klootschießen zum Boßeln stattfand, ist nicht genau überliefert. Fest steht jedoch, dass durch die Verlegung des Sports vom Feld auf befestigte Straßen und durch die Veränderung des Spielgerätes, das Boßeln immer mehr Zuspruch fand. Die Technik des Boßelns war leicht erlernbar und für ein breiteres Publikum zugänglich.
Was ist denn beim Klootschießen anders?
Hanko: Die Wettkämpfe finden meistens auf zugefrorenen Wiesen statt und nicht auf der Straße. Man wirft mit einer mit Blei gefüllten Holzkugel. und die Wurftechnik ist sehr ausgefeilt.
Der Werfer nimmt über 25 Meter Anlauf, springt auf ein Absprungbrett, um dann den Kloot möglichst weit zu schleudern.
Bei uns ist das nicht mehr so verbreitet. Hier wird eher geboßelt.
Jedenfalls konnte man den Boßelsport nur im Winter und am Wochenende ausführen, weil dann die Arbeiter und Landwirte Zeit hatten und die Straßen, die früher nicht befestigt waren, gefroren waren. Der Untergrund musste ja hart sein. Heute ist das größere Problem der Verkehr. Wir können in den Ferienzeiten keine Straße sperren. Bei dem hohen Verkehrsaufkommen auf der Störtebekerstraße würden wir gar nicht zum Boßeln kommen.
Deshalb verlagern wir die Kämpfe im September und Oktober auswärts. Wir tauschen die Kämpfe mit den Vereinen, die auf wenig befahrenen Straßen werfen. Ab November, Dezember, Januar sind wir wieder vermehrt hier in Dornumergrode. Die Männer und Frauen mit den roten Jacken, das sind wir!
Habt ihr auch mal Ärger mit den Autofahrern?
Hanko: Ja, wenn wir ein Auto mit der Kugel treffen. Wir sind zwar dagegen versichert. Aber die Wartezeiten im Wettkampf, bis alles mit den Autofahrern geklärt ist, das ist viel ärgerlicher. Gott sei Dank rollt die Kugel meistens unters Auto durch.
Montags werden die Boßelergebnisse in den lokalen Tageszeitungen veröffentlicht?
Hanko: Ja. Die Ergebnisse geben wir direkt nach dem Wettkampf in eine App ein. Das geht dann an den Kreisverband und der gibt sie weiter an die lokalen Zeitungen und veröffentlicht sie auf der Webseite bosselergebnis.info. Dort sind alle Ergebnisse aufgelistet, von der Amateur- bis zur Profi-Liga.
Was seid ihr denn?
Hanko: Wir sind im gesunden Mittelmaß (Grinst)
Trainiert ihr für den Boßelsport?
Hanko: Ja, klar. Wir können natürlich nicht ein komplett halbes Jahr zuhause bleiben und dann untrainiert in die Wettkämpfe gehen. Wir treffen uns in den Sommermonaten regelmäßig. Dann werfen wir häufig am Deich auf dem Deichsicherungsweg. Da haben wir außer Radfahrer und Schafe nichts zu befürchten.
Ist der Boßelsport nur bei uns in Ostfriesland so populär.
Hanko: Nein, Boßeln gibt es in den Niederlanden, Irland, aber auch in Italien und Spanien. In Deutschland gibt es zwei Boßel-Hochburgen: in Ostfriesland und Oldenburg. Und die treten dann auch bei den Europameisterschaften gegeneinander an. Das dürfen die, obwohl beides deutsche Mannschaften sind. Tja, im Boßelsport ist Ostfriesland eben unabhängig (lacht). Da haben wir die Unabhängigkeit geschafft.
Wow, dann gibt es im Boßeln sogar internationale Wettkämpfe?
Hanko: Ja, alle vier Jahre.
Und haben die Ostfriesen schon mal gewonnen?
Hanko: Ja, schon mehrmals.
Aber zum Spaß boßeln, wie es im Winter viele Firmen machen, ist auch okay oder?
Hanko: Klar, nicht jeder, der gern boßelt, gehört zu einer Mannschaft und spielt Turniere. In vielen Firmen und Behörden wird einmal im Jahr geboßelt, nur so zum Spaß. Dann geht’s mit einem gut gefüllten Bollerwagen (mit Proviant und Alkohhol) meist auf abseits gelegene Straßen und anschließend gibt es ein deftiges Grünkohlessen.
Und da fließt dann auch der Alkohol …
Hanko: Ja, beim Freizeitboßeln gehört das eben dazu. Aber bei den Wettkämpfen gibt‘s überhaupt keinen Alkohol. Wir nehmen ja am Straßenverkehr teil. Da hat der Alkohol nichts zu suchen. Mit Alkohol könnten wir gar nicht das körperliche Pensum abrufen. Wir wollen ja gewinnen
Wenn wir den Kampf beendet haben, dann gönnen wir uns anschließend ein kaltes Bier. Da werden dann auch die Gegner eingeladen. Dann setzen wir uns meist noch zusammen, gehen die Ergebnisse durch, und dann folgt der gemütliche Teil. Nach einer Stunde geht’s dann nachhause. Die Frauen warten ja mit dem Mittagessen auf uns.
Habt ihr Nachwuchsprobleme im Verein?
Hanko: Ja, klar, da haben wir auch mit zu kämpfen. Gott sei Dank haben wir viele junge Leute im Verein. Von 18 – 60 Jahre, vom Banker bis zum Lehrling, ist alles dabei. Heutzutage gehen die Leute nicht mehr so einfach in einen Verein. Die Freizeit ist vielen Leuten wichtiger als das Vereinsleben. Es erfordert eben auch sehr viel Disziplin von Ende September bis März fast jedes Wochenende auf der Piste zu sein. Und das selbst bei Starkregen. Regen ist nämlich kein Abbruchgrund.
Schönes Wetter ist im Winter ja nicht die Regel. Das schreckt natürlich auch ab. Ist aber trotzdem schön. Wir konnten wegen Corona eineinhalb Jahre nicht boßeln. Wir haben uns so gefreut, als wir das erste Mal wieder spielen konnten. Man hatte sich so viel zu erzählen … und dann endlich wieder Bewegung an der frischen Luft … Doch, das ist schön und macht viel Spaß.
Würdest du sagen, dass Boßeln den Teamgeist fördert?
Hanko: Ja, unheimlich. Wir leben in Dornumergrode. Der Boßelverein ist der einzige Verein hier. Wir halten toll zusammen. Nicht nur die Männer untereinander, auch die Frauen. Man kennt sich, man hilft sich. Wir organisieren das Osterfeuer, das Maibaumfest, Ortsfeste, Müllsammelaktionen und sogar Junggesellenabschiede. Also machen auch über das Boßeln hinaus sehr viel miteinander. Tja, und wenn wir uns mal langweilen, dann machen wir halt eine Trainingseinheit Boßeln.
Boßelt deine Frau auch?
Hanko: Nein, noch nicht.
Musst du noch Überzeugungsarbeit leisten?
Hanko: Wird schwierig. Aber den Mitgliedsantrag für unsere Kleine (2 Monate) liegt schon auf dem Schreibtisch. (lacht)
Wann bist du angefangen zu boßeln?
Hanko: Mit 12 Jahren. Damals sind alle Kinder im Boßelverein gewesen. Da wurden wir erst gar nicht gefragt, ob wir wollten. Wir mussten. So waren wir draußen an der frischen Luft und die Eltern waren uns für ein paar Stunden los. Unserer ersten Boßelerfahrungen haben wir hinterm Deich gemacht. Ohne Autoverkehr und längst nicht so viele Radfahrer wie heutzutage, und im Winter schon mal gar keine. Tja, und so bin ich bis heute dabeigeblieben.
… und wirst es auch zukünftig bleiben?
Hanko: Ja, hier fühle ich mich zuhause. Hier will ich bleiben. Wir haben eine tolle Nachbarschaft, die funktioniert. Deswegen boßel ich im Verein und unterstütze nach Kräften, wie ich kann. Vielen Menschen ist es hier zu ruhig. Für uns ist es genau richtig.
Was ist das Kurioseste, was du bislang im Boßeln erlebt hast:
Hanko: Es sind ja viele Reisebusse auf unseren Straßen unterwegs. Ein Reisebus hielt letztens während eines Spiels an. Was wir denn da machen, wurden wir gefragt. Wir haben es erklärt, sind sogar mit der Boßelkugel durch den Bus gelaufen und haben anschließend auf der Straße noch einen Wurf gemacht, um denen das zu demonstrieren. Für uns ist es ja selbstverständlich, auf den Straßen zu boßeln. Aber Fremde wundern sich natürlich. Es kommt schon mal vor, dass man in den Zeitungen liest, dass am Wochenende die Polizei gerufen werden musste, weil irgendwelche Verrückte betrunken auf der Straße gesichtet wurden. Dabei waren es nur die Boßler.