Die goldene Ära der Sielhäfen

Die Geschichte Dornumersiels und Westeraccumersiels

Drei Jahrhunderte Segelschifffahrt im Zwei-Siele-Museum

Heute vermag man es sich kaum vorstellen, aber die kleinen Fischerorte Dornumersiel und Westeraccumersiel waren über Jahrhunderte stolze Handelshäfen, deren Kapitäne alle Weltmeere bereisten. Was ist aus den Häfen geworden? Warum existiert heute nur noch ein Hafen? Welche Schätze birgt das ehemalige Kapitänshaus am alten Hafen in Dornumersiel, das heute das Zwei-Siele-Museum beherbergt?

Die Geschichte Dornumersiels und Westeraccumersiels im Zwei-Siele-Museum
Axel Heinze vom Zwei-Siele-Museum im Wiechers-Huus in Dornum

Axel Heinze ist Leiter des Museums und weiß viele Geschichten aus der Blütezeit der beiden Sielhäfen zu erzählen. Ich treffe mich mit ihm in der restaurierten Köken (Küche) des Museums in Dornumersiel.

Die Namen Westeraccumersiel und Dornumersiel lassen vermuten, dass hier einmal zwei Häfen waren – und sogar direkt nebeneinander, nicht mehr als 50 Meter voneinander entfernt? Warum war das so?

Axel: Ja, das ist wirklich erstaunlich, aber im Prinzip einfach erklärt: Im Mittelalter bildete die Accumer Ee – das jetzige Dornumersieler Tief – die Grenze zwischen Ostfriesland und dem Harlingerland. Die Herrlichkeit Dornum gehörte zu Ostfriesland, während das Harlingerland das Gebiet um Esens und Wittmund umfasste. Beide Länder hatten einen Landesherrn, und beide wollten ein eigenes Siel haben.

 Ein Siel bedeutet, man hat einen Hafen. Und wenn man einen Hafen hat, kann man Geschäfte machen.

Ostfriesische Geschichte im Zwei-Siele-Museum im Wiechers-Huus in Dornum

Es geht also mal wieder ums Geld.

Axel: Richtig (lacht). Es geht ums Geld. Dornum und das Harlingerland hatten im 16. Jahrhundert an zwei Mündungsarmen der Accumer Ee (Dornumsieler Tief) eigene Siele und Hafenplätze. Erstaunlich ist für mich, dass die beiden Häfen bei zwei Sturmfluten nahezu vollständig zerstört wurden. Bei der Sturmflut 1717 – die Weihnachtsflut – und bei der Februarflut von 1825. Eines der wenigen Häuser, das die Sturmfluten überlebt hat, ist dieses. Es wurde 1697 direkt auf dem Deich gebaut. Somit muss das damals auch die ursprüngliche Höhe des Deiches gewesen sein.

Nach den zwei verheerenden Sturmfluten, die massive Opfer an Toten und Material hatten, wurden beide Orte innerhalb kürzester Zeit wieder aufgebaut. Alleine in der Weihnachtsflut von 1717 sind in beiden Orten von ehemals 122 Häusern nur sieben übriggeblieben. Und selbst diese waren kaum bewohnbar. Die meisten Einwohner kamen in den Fluten um.

Trotz der totalen Zerstörung sind die Überlebenden geblieben und haben die Orte wieder aufgebaut. Obwohl sie doch damit rechnen mussten, dass die nächste Sturmflut kommt.

Axel: Ja natürlich. Daran erkennt man die Bedeutung der Häfen. Sie waren eben wichtig und wurden gebraucht. Hier konnte man Handel treiben. Hier konnte man Geld verdienen. Hier war die Schifffahrt. Hier wurden die Produkte des Landes verhandelt. Der gebrochene Deich war erst 1760 wieder komplett erneuert. Nach der Weihnachtsflut wurden die Deiche auch erhöht. So richteten die nachfolgenden Sturmfluten nicht mehr die verheerenden Zerstörungen vergangener Fluten an. Die Sielorte konnten sich allmählich erholten.

 Hier war die Schifffahrt. Hier wurden die Produkte des Landes verhandelt.

Heute bezeichnen wir unsere Sielhäfen als Fischerorte. Aber Fischfang wurde hier wenig betrieben?

Axel: Nee, Fische hat man damals nur zum Eigenbedarf gefangen. Das waren hier keine Fischereihäfen. Das waren Handelshäfen, wie Hamburg im Kleinen. Die Marsch war eine reiche Landschaft.

Sie hatten viele landwirtschaftliche Produkte, die mussten verkauft werden. Andererseits fehlten hier wichtige Rohstoffe, wie Holz, Steine, Stoffe, Metallwaren, Kaffee, Tee, Zucker, Tabak, Bier und Wein. Das musste also eingeführt werden. Das war Aufgabe der Schifffahrt, die hier beheimatet war. Handel wurde mit vielen Ländern betrieben: Holland, Frankreich, Skandinavien, England, dem Ostseeraum und natürlich Bremen, Hamburg usw. 

Wann war denn die Blütezeit der Handelshäfen?

Axel: Das war bereits Anfang des 18. Jahrhunderts. Man weiß, dass 1876 in Dornumersiel acht, in Westeraccumersiel zehn Segelschiffe mit durchschnittlich 80 Registertonnen beheimatet waren. Der Dornumersieler Karl-Heinz Wiechers hat sich mit der Segelschifffahrt beschäftigt und konnte nachweisen, dass vom 18. bis 19. Jahrhundert in beiden Häfen 172 Segelschiffe beheimatet waren. Das zeigt die große Bedeutung der Segelschifffahrt.

Die Geschichte der Segelschiffe im Zwei-Siele-Museum im Wiechers-Huus in Dornum

Dann lebten viele Kapitäne hier?

Axel: Ja, um diese Zeit besteht ein großer Teil der Einwohner aus Kapitänen auf großer Fahrt, die alle Weltmeere bereist und sich hier später zur Ruhe gesetzt haben. Einige ihrer kostbaren Grabstelen kann man heute noch auf dem Friedhof in Westeraccum finden. Sie stehen unter Denkmalschutz. Ja, und dann wohnten hier natürlich noch viele Handwerker und Händler. Sogar Reedereien gab es hier. Man kann sich vorstellen, welch reges und geschäftiges Treiben hier herrschte.

Warum verloren die Häfen ihre Bedeutung? Und warum gibt es heute nur noch einen Hafen?

Axel: Die goldene Ära endete mit Beginn des Erstens Weltkrieges durch das Aufkommen der Dampfschiffe. Diese modernen Schiffe waren zu groß für die Häfen hier. Somit wanderten viele Seeleute ab oder mussten sich, wenn sie bleiben wollten, neue Erwerbsquellen erschließen. Und das war eben der Fischfang, vornehmlich Krabben. Aber viel Geld war damit nicht zu verdienen. Das änderte sich erst mit dem aufkommenden Tourismus, ab der 70er Jahre. Zwar gab es auch vor dem 2. Weltkrieg etwas Tourismus. Das waren vornehmlich Künstler, die hier Urlaub gemacht haben. Es war hier billig – und Künstler hatten ja kein Geld. Zwar war es armselig hier, aber eben auch malerisch. Wir haben hier im Kapitänshaus übrigens einige Malereien von Künstlern, die hier waren.

Schiffahrt im  Zwei-Siele-Museum im Wiechers-Huus in Dornum

Tja, und vereint wurden die beiden Häfen erst nach der Sturmflut von 1962. Da stand das Wasser ein paar Zentimeter unter der Deichkrone. Man hatte also unheimliches Glück, dass es keine Deichbrüche gab, so wie zum Beispiel in Hamburg. Aber es war allen klar, dass etwas passieren musste. Man stand zum einen vor der Aufgabe, das Land zu sichern und zum anderen die Entwässerung im Binnenland zu verbessern, da hohe Wasserstände dort den Bauern schwere Schäden zugefügt hatten.

Die Häfen sind nun mal die Schwachstellen im Deich, da sie als erstes überflutet werden.

Solange der Deich eine geschlossene Linie bildet, ist das relativ unproblematisch. Aber sobald da irgendein Hindernis ist, sind das die Stellen, wo der Sturm am ehesten angreift. Deshalb entschied man sich, nur noch ein Sielwerk zu bauen. Und so wurden der Westeraccumersieler Hafen, das Siel und das Westeraccumersieler Tief geopfert und zerstört.

Was man heute bedauert. Wenn man sich alte Fotos anschaut, muss Westeraccumersiel ein sehr malerischer Hafen gewesen sein. Es brauchte wohl den Vergleich mit Greetsiel nicht zu scheuen?

Axel: Ja, das stimmt. Das wäre heute ein touristisches Highlight. Wäre man hier behutsamer vorgegangen, so würde Dornumersiel heute bestimmt zu den allerschönsten Orten an der ostfriesischen Nordseeküste zählen. Jedenfalls wurde in den folgenden Jahren die Deichlinie vorverlegt und ein neues Schöpfwerk gebaut. Was wir heute am Hafen sehen. Und in dem so neu entstandenen Hafen vor dem Pumpwerk sind nun die Dornumersieler Fischerflotte und der Yachthafen beheimatet. Der neue Hafen draußen war auch eine diplomatische Lösung, er wurde zum Trost für die Westeraccumersieler Einwohner, die ihren Hafen verloren hatten, Accumersiel genannt.

Schiffe im  Zwei-Siele-Museum im Wiechers-Huus in Dornum

Das ehemalige Kapitänshaus, in dem wir hier sitzen, ist jetzt das Zwei-Siele-Museum, das wunderschön restauriert wurde. In welchem Zustand habt ihr das Haus 2015 übernommen?

Axel: Hier hat früher eine arme Witwe mit ihren Töchtern gewohnt. Die hatte kein Geld, hier irgendetwas zu machen. 1965 hat ein Ehepaar aus dem Raum Hannover dieses Haus als Ferienhaus erworben. Die haben auch kaum investiert. Dass hier noch eine Bausubstanz von 1696 war, ahnte niemand. Als wir das Haus bekamen, haben wir es unter Denkmalschutz gestellt und Fördermittel für die Restaurierung erhalten. Sonst hätten wir das Zwei-Siele-Museum nie stemmen können.

Die kostbaren Wand – und Türbemalungen aus dem Jahr 1744 waren von 10 Schichten Farbe verdeckt.

Warum habt ihr das Haus überhaupt gekauft?

Axel: Es bestand immer der Wunsch nach einem eigenen Museum, um vor allem die umfangreiche Sammlung von Karl-Heinz-Wiechers zur ostfriesischen Küstengeschichte unterzubringen. Das Ehepaar Wiechers aus Dornumersiel hat sich jahrzehntelang in intensiver Forschungsarbeit mit der ostfriesischen Segelschifffahrt beschäftigt und 2011 die K.-H.-Wiechers-Stiftung gegründet. Der Auftrag der Stiftung war, ein Haus zu bekommen, um das Museum von Karl-Heinz Wiechers unterzubringen. Nach einem Jahr bekamen wir durch Zufall dieses Haus hier angeboten. Die Vorbesitzer hatten bereits angefangen zu renovieren. Sie merkten aber rasch, dass das hier ein Fass ohne Boden war. So ging es los mit dem Zwei-Siele-Museum.

Es sind ja nicht nur diese wunderschönen Wandbemalungen erhalten geblieben, sondern auch einige kostbare Möbel?

Axel: Ja, es ist noch einiges originales Mobiliar erhalten, wie hier der alte Küchenschrank aus dem 18. Jahrhundert. Der Ofen in der Küche wurde wieder freigelegt und rekonstruiert. Es liegt noch einiges Mobiliar im Keller, das restauriert werden soll. Wir haben ja eine Erweiterung des Zwei-Siele-Museums im benachbarten Gebäude geplant. Aber da benötigen wir noch etwas Geld. Immer die Jagd nach dem Geld (schmunzelt). Aber da haben wir mittlerweile Übung drin.

Es ist sehr viel ehrenamtliche Arbeit in das Museum geflossen? Macht dir die Arbeit immer noch Spaß?

Axel: Ja. Es macht Spaß. Vor allem weil viele fleißige und ehrenamtliche Einwohner mit anpacken. Die Arbeit ist sehr reizvoll. Das Archiv, die Bibliothek und das wundervolle Haus… Toll. Das ist Spitze (lacht). Die Leute, die das Zwei-Siele-Museum besuchen, wundern sich immer, was hier alles ist.

Kannst du zu den ehemaligen Bewohnern des Hauses etwas erzählen?

Axel: Von 1720 an konnten wir die Bewohner des Hauses lückenlos nachvollziehen. Es muss sich um ziemlich reiche Leute gehandelt haben. Der bekannteste und wohl auch bedeutendste für das Haus war Kapitän Focke Focken und seine Ehefrau Lücke Focken. Sie ließen das Haus bedeutend erweitern. Das hintere Dach wurde angehoben, so dass über dem Niederhaus vier neue Räume entstanden. Nach und nach entstand so, dass was wir auch heute im Zwei-Siele-Museum begehen.

Die Geschichte der Seefahrer im  Zwei-Siele-Museum im Wiechers-Huus in Dornum

Die neuen Türen und Wände ließen sie von einem Kunstmaler in barocker Gestaltung bemalen. Diese kunstvolle Bemalung zeigt einmal mehr den Kunstverstand der Bewohner. Der letzte Kapitän hieß de Boer. Man fand hinter einem Wandschrank eine alte Seekarte von der Südküste Australiens. Auf der Karte sind noch die Positionen des Segelschiffes eingezeichnet. Man vermutet, dass die Karte ihm gehörte und er mit seinem Schiff bis nach Südostasien gefahren ist.

Axel Heinze im  Zwei-Siele-Museum im Wiechers-Huus in Dornum

Das müssen stolze Kapitäne gewesen sein, die alle Weltmeere umsegelten.

Axel: Ja, und stolze Segelschiffe, die hier beheimatet waren und eine Voraussetzung für unsere heutige Globalisierung schufen.

Und da leistet das Zwei-Siele-Museum einen wichtigen Beitrag, um diese Geschichte am Leben zu erhalten. Axel, ich danke dir für das Gespräch. 

Hörtipp: Marlene erzählt dir mehr über den Deichbau und die Weihnachtsflut.

Marlene schreibt

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